(English version below)
Mit diesem Statement begegnen wir dem Vorwurf von ‘Rettet Gaza’, unsere “Wokeness” sei reine Performance und wir gäben Palästinenser keine Stimme. Zudem werfen sie uns vor, wir würden “aus Bequemlichkeit schweigen”.
Nun ist es mehr als ein Jahr her, dass die Hamas-Terrorist:innen ein Massaker verübten. Sie taten das in friedenswerbenden Kibbuzim und auf einem lebensbejahenden Festival – ein kalkulierter Horror. Sie lösten damit die aktuelle und unverhältnismäßig brutale Gewaltreaktion Israels aus. Diese hält erstens bis heute an. Zweitens darf sie nicht darüber hinwegtäuschen, dass es ein Kontinuum der Unterdrückung palästinensischer Menschen in der West Bank und im Gazastreifen gibt, seit Jahrzehnten. 41.500 Menschen wurden seit dem 7. Oktober allein in Gaza getötet, fast 2 Millionen vertrieben – unfassbare Zahlen.
Wir als Amnesty International Konstanz fühlen uns benommen, wenn wir auf die menschenrechtliche Situation vor Ort, in Israel, Palästina und im Libanon blicken. Gegen diese Benommenheit hilft nur, dass wir Aktionen vor Ort planen, Trost spenden und gemeinsam trauern.
Wir haben das getan: Bei einer Mahnwache auf der Marktstätte Ende Oktober 2023, um an die Opfer des damals ausbrechenden Krieges zu gedenken und an die Einhaltung der allgemeinen Menschenrechte zu erinnern. Bei einer Informationsveranstaltung im Petershausener Treff mit dem ehemaligen GIZ-Landesdirektor Rudolf Rogg zu Protected Presence in den Hebron Hills. Und bei einem grenzübergreifenden Austausch zwischen einem Rabbi und einem Imam im Dattelhaus. Wir haben diese Aktionen durchgeführt, weil wir erschrocken wahrnehmen, wie tief die Gräben in diesem Konflikt geworden sind und wir sehr wir das hier in Konstanz spüren.
Wir sehen, dass sowohl Teile von Rettet Gaza als auch Teile von israelfreundlichen Bündnissen das Zuhören verlernt zu haben scheinen. Diese Teile verbreiten reduktionistische Parolen und betonen Teilwahrheiten. Ihre Blicke sind verengt auf die eigene Perspektive und die eigenen “zones of interest”. Immer ferner liegt es ihnen, das Leid Anderer anzuerkennen und aufeinander zuzugehen, auch im Finden einer gemeinsamen Sprache. In alltäglichen Gesprächen zum Thema Nahost dominieren Kopfschütteln, Slogans-Rufen und Niederbrüllen. Der Stadtdiskurs zum Thema Nahost ist kontaminiert. Einige Polarisierungsunternehmer:innen erklären die Erinnerungsarbeit der letzten Jahre für wertlos. Sie hissen die roten Flaggen und pflocken sie auf geschlossene Wortkreise “Genozid”, “Schuldkult” und “Apartheidstaat”, die es mit Bedacht zu nutzen gilt. Bei all dem vermissen wir von Amnesty International Konstanz Öffnungen der geschlossenen Wortkreise und warnen davor, dass wir Räume der Solidarität verlieren.
Insofern stimmt es, was Rettet Gaza geschrieben hat: Wir von Amnesty International Konstanz zögern und hadern und sind vorsichtig in unserer Aushandlung, wie wann und vor allem mit wem wir Menschenrechtsverletzungen anprangern. Wir sind eine kleine Gruppe mit begrenzten Kapazitäten. Als lokale Gruppe einer globalen Menschenrechtsorganisation investieren wir uns nicht nur mono-regional in Palästina und Israel, sondern auch in Afghanistan, im Sudan und in Myanmar. Leider mangelt es nicht an Menschenrechtsverletzungen. Drängt ein eher monothematisch aufgestellter Verein auf die lokale Bühne, dann bleibt automatisch weniger Raum für andere zivile und breiter aufgestellte Akteur:innen, in verschiedener Form zum Nahostkonflikt Haltung zu zeigen. All das darf die selbstkritische Frage nicht kaschieren: Wie viel Engagement ist ‘genug’? Und wo sollen wir anfangen? Wir könnten uns daran die Köpfe zerbrechen, bis zur völligen Apathie. Oder wir tun unser Möglichstes. Gleichzeitig stimmt: Mit mehr Mut und Leuten hätten wir die ein oder andere Aktion mehr planen können.
Trotzdem versuchen wir auch im Gaza-Krieg Brücken zu bauen und klar zu benennen. Wir benennen die Hisbollah und die Hamas als Terrorist:innen und religiöse Fundamentalist:innen, die queer- und frauenfeindlich sind und die Todesstrafe anwenden – sie sind also keine CSD-Vorbilder und antikoloniale Befreiungsbewegung; wir benennen die Geiselnahmen als sofort zu beendende Menschenrechtsverletzung; die Hamas als systematische Unterdrücker:innen der palästinensischen Zivilbevölkerung, auch schon vor dem 7. Oktober; die israelische Regierung als größtenteils rechtsradikal; die mordenden israelischen Siedler:innen als Terrorist:innen und die israelischen Pager-Attacken als Terrorattacken.
Der Internationale Strafgerichtshof untersucht mutmaßliche Kriegsverbrechen der israelischen Armee in Gaza und ein Genozidverdacht steht im Raum. Unbestritten ist die strukturelle Diskriminierung der Palästinenser:innen durch die völkerrechtswidrige Siedlungspolitik Israels. Wir sehen, dass vor allem die Lebensgeschichten palästinensischer Kriegsopfer unter horrenden Opferzahlen verschütt geraten. Und wir sehen, dass die Menschen überall leiden, seien es die zu Hunderttausenden und x-mal Vetriebenen in Gaza, die in Angst lebenden Menschen in Beirut oder die Israelis, die um ihre verschleppten Angehörigen bangen. Wir versuchen zu differenzieren und werfen die Frauen-Leben-Freiheit-Bewegung im Iran nicht in einen Pott mit der Gewalt im Nahen Osten. Wir fordern, dass die Waffen schweigen müssen, sofort, auch wenn das schon viel zu spät ist. Und dass diese Waffen nicht aus deutschen Arsenalen stammen dürfen. Dass es nach einem Jahr noch keinen Waffenstillstand gibt, ist ein kollektives Versagen der Menschheit.
Wir sehen, dass immer öfter Menschen nicht nur als antisemitisch “gebrandmarkt” werden, sondern dass sich antisemitische Vorfälle in Deutschland und Konstanz tatsächlich häufen. Und wir hoffen, radikal, auf eine bessere Zukunft im Nahen Osten. In einem Israel und einem Palästina, in denen Menschenrechte wieder ihren Namen wert sind und das Völkerrecht geachtet wird und Frieden herrscht. Wir nehmen keine intellektuellen Abkürzungen. Wir werden also stutzig, wenn immer mehr Menschen versuchen, die Völker der Welt in dämonische Unterdrückende und tapfere Unterdrückte zu unterteilen. Dazu gehört, dass sich auch im kleinen Konstanz kühler Verstand und großes Herz gegen die Polarisierungsunternehmer:innen und ihre Entmenschlichungsversuche durchsetzen. Und dass wir merken, wo wir, gemeinsam, aus Konstanz wirklich etwas bewegen können, was auch in den Nahen Osten abstrahlt: Im Kampf gegen Rechtspopulismus in diesem Land. Dafür werben wir von Amnesty International Konstanz, jede Woche. Dafür schaffen wir entsprechende Räume.
Wir brauchen wieder die Aussicht auf Versöhnung. Stadtgespräche als Antithesen zum Krieg. Wir stehen zu dieser brückenorientierten Haltung und einer reflektierten, kritischen Zeug:innenschaft, möge sie einigen auch als mutlos vorkommen. Als Menschenrechtsorganisation stehen von Natur aus dazwischen, sind aber nicht neutral oder unentschieden. Aus Überzeugung stehen wir auf der Seite aller Unterdrückten, die Hilfe brauchen, für jede:n Einzelne:n. Jedes Menschenleben ist kostbar, jeder Mensch ist Vieles. Menschenrechte sind universell.
Und wir sind stets bereit für zukünftige Zusammenarbeit und zur Selbstkritik. Unser Plenum jeden Montag steht allen offen, die mit uns darüber ins Gespräch kommen wollen: konstruktiv, offen und empathisch, in einem sicheren und ermutigenden Rahmen. Wir verstummen nicht über dem Schmerz und bleiben laut.
Anmerkung: Auf weitere Stellungnahmen in den Sozialen Medien zu dem Thema verzichten wir.
Statement by Amnesty International KN: Courageless and inactive in the Gaza and Lebanon war?
With this statement we counter the accusation by ‘Save Gaza’ that our “wokeness” is pure performance and that we are not giving Palestinians a voice. They also accuse us of “remaining silent out of convenience”.
It is now more than a year since the Hamas terrorists carried out a massacre. They did so in peace-promoting kibbutzim and at a life-affirming festival – a calculated horror. In doing so, they triggered Israel’s current and disproportionately brutal reaction to violence. Firstly, this continues to this day. Secondly, it should not obscure the fact that there has been a continuum of oppression of Palestinian people in the West Bank and Gaza Strip for decades. 41,500 people have been killed in Gaza alone since October 7 and almost 2 million displaced – unbelievable numbers.
As Amnesty International Constance, we feel numb when we look at the human rights situation on the ground, in Israel, Palestine and Lebanon. The only thing that helps against this numbness is that we plan actions on the ground, give comfort and mourn together.
We did this: At a vigil in the marketplace at the end of October 2023 to commemorate the victims of the war that broke out at that time and to remind people to respect universal human rights. At an information event at the Petershausener Treff with former GIZ Regional Director Rudolf Rogg on Protected Presence in the Hebron Hills. And at a cross-border exchange between a rabbi and an imam in the Dattelhaus. We carried out these activities because we are shocked to see how deep the rifts in this conflict have become and we can feel it here in Constance.
We see that both parts of Save Gaza and parts of pro-Israel alliances seem to have forgotten how to listen. These sections spread reductionist slogans and emphasize partial truths. Their views are narrowed down to their own perspective and their own “zones of interest”. They are increasingly reluctant to acknowledge the suffering of others and to approach each other, including by finding a common language. Everyday conversations about the Middle East are dominated by shaking heads, shouting slogans and shouting down. The urban discourse on the Middle East is contaminated. Some polarization entrepreneurs declare the remembrance work of recent years to be worthless. They raise the red flags and stake them on closed word circles “genocide”, “cult of guilt” and “apartheid state”, which must be used with caution. In all of this, we at Amnesty International Constance miss openings of the closed word circles and warn that we are losing spaces of solidarity.
In this respect, what Rettet Gaza has written is true: We at Amnesty International Konstanz hesitate and struggle and are cautious in our negotiation of how, when and, above all, with whom we denounce human rights violations. We are a small group with limited capacities. As a local group of a global human rights organization, we invest ourselves not only mono-regionally in Palestine and Israel, but also in Afghanistan, Sudan and Myanmar. Unfortunately, there is no shortage of human rights violations.
And : If a rather monothematic association pushes onto the local stage, there is automatically less room for other civil and broader-based actors to take a stance on the Middle East conflict in various ways. All of this must not conceal the self-critical question: How much engagement is ‘enough’? And where should we start? We could rack our brains over this to the point of complete apathy. Or we could do the best we can. At the same time, it’s true: With more courage and people, we could have planned more actions.
Nevertheless, we are also trying to build bridges in the Gaza war and name them clearly.
We name Hezbollah and Hamas as terrorists and religious fundamentalists who are anti-queer and misogynist and use the death penalty – so they are not CSD role models and anti-colonial liberation movements; we name the hostage-takings as a human rights violation that must be stopped immediately; Hamas as systematic oppressors of the Palestinian civilian population, even before October 7; the Israeli government as largely right-wing extremist; the murderous Israeli settlers as terrorists, and the israeli pager attacks as terrorist attacks.
The International Criminal Court is investigating alleged war crimes committed by the Israeli army in Gaza and genocide is suspected. The structural discrimination against Palestinians caused by Israel’s settlement policy, which violates international law, is undisputed. We see that the life stories of Palestinian war victims in particular are being buried under horrendous numbers of victims. And we see that people are suffering everywhere, be it the hundreds of thousands of displaced people in Gaza, the people living in despair in Beirut or the Israelis who fear for their abducted relatives.
We try to differentiate and do not lump the Women’s Life and Freedom Movement in Iran together with the violence in the Middle East. We demand that the weapons must fall silent, immediately, even if it is far too late. And that these weapons must not come from German arsenals. The fact that there is still no ceasefire after a year is a collective failure of humanity.
We see that more and more people are not only being “branded” as anti-Semitic, but that anti-Semitic incidents in Germany and Constance are actually becoming more frequent. And we hope, against all odds, for a better future in the Middle East. In an Israel and a Palestine in which human rights are worth their name again, international law is respected and peace prevails. We do not take intellectual shortcuts. So we become suspicious when more and more people try to divide the peoples of the world into demonic oppressors and brave oppressed.
This means that cool heads and big hearts must prevail against the polarization entrepreneurs and their attempts to dehumanize. And that we realize where we, together, can really make a difference from Constance, which will also radiate into the Middle East: In the fight against right-wing populism in this country, for example. This is what we at Amnesty International Constance are campaigning for every week. We create appropriate spaces for this.
We need the prospect of reconciliation again. City talks as an antithesis to war. We stand by this bridge-oriented stance and a reflective, critical witness, even if it may seem despondent to some. As a human rights organization, we are by nature in between, but we are not neutral or undecided. Out of conviction, we stand on the side of all oppressed people who need help, for each and every one of them. Every human life is precious, every human being is many. Human rights are universal.
And we are always ready for future cooperation and self-criticism. Our plenary session every Monday is open to anyone who wants to discuss this with us: constructively, openly and empathetically, in a safe and encouraging environment. We do not fall silent about the pain.
Note: We will refrain from making any further statements on the subject on social media.